Die Unbesiegbare

Sie ist beliebt und verhasst zugleich, sie wird bejubelt und gleichzeitig belächelt, sie ist also kontrovers wie kaum eine Frau in der deutschen Öffentlichkeit: Charlotte Roche. Sie ist Journalistin, Romanautorin, politische Aktivistin, Feministin, Moderatorin und Musikerin. Mit ihrer Vielschichtigkeit, ihrer schonungslosen Ehrlichkeit, ihrer Biografie und ihren Werken ist Charlotte Roche alles außer gewöhnlich.

Die Grenzgängerin

Obwohl die in England geborene Roche als Moderatin, Sprecherin und Musikerin schon seit Jahrzehnten in der deutschen Radio- und Fernsehlandschaft tätig war, erregte sie in der gesamten öffentlichen und medialen Gesellschaft erst mit ihrenen ersten Roman Aufmerksamkeit. Im Jahre 2008 veröffentlicht, revolutionierte Feuchtgebiete die feministische Literatur. Mit Themen wie Intimhygiene, weibliche Masturbation, Vaginalflüssigkeiten oder Selbstverletzung traf das Buch einen Nerv in der Gesellschaft und wurde ein Bestseller.

Man stellt sich die Frage, weshalb die Autorin sich mit derartigen grenzwertigen Themen und kontrovers diskutierten Inhalten umgibt. Betrachtet man Charlotte Roches Biografie, steckt sicher mehr dahinter als der bloße Wunsch nach medialer und sozialer Aufmerksamkeit.

Bereits in ihrer Jugend ging die Künstlerin an und über Grenzen: Sie verletzte sich selbst, malte mit ihrem Blut, rasierte sich ihr Haar ab und sagte öffentlich der Bildzeitung den Kampf an, nachdem deren Berichterstattung über ihre verünglückte Familie ihre Persönlichkeitsrechte verletzte. In einer Folge der Fernsehsendung Das Duell um die Welt stürzte sie sich, gesichert durch eine an ihrer Rückenhaut befestigte Eisenstange, vor den Augen des Fernsehpublikums von einer Brücke. Gegenüber all diesen Exzessen erscheint ihr Roman über die Sexualität eines Mädchens fast harmlos.

Feminismus neu definiert

Doch die Veröffentlichung von Feuchtgebiete stieß eine öffentliche Debatte an, welche im 21. Jahrhundert richtig platziert scheint: die der weiblichen Sexualität, des Feminismus, der durch eine positive und masochistische Haltung bei vielen Frauen völlig neu definiert wurde. Charlotte Roche spricht in der Öffentlichkeit über Sex, ihren Atheismus, ihr Alkoholproblem und ihre tiefsten Sehnsüchte mit einer schonungslosen Ehrlichkeit, wie sie in der medialen Welt von Standardgesichtern, gemachten und gestylten Körpern, eines eindeutigen weiblichen Schönheitsideals und der immer noch zurückgebliebenen Rolle der Frau zuvor kaum aufgetaucht war.

Charlotte Roche ist für viele junge Frauen ein Vorbild, nicht nur durch ihre journalistischen Erfolge und ihrer Medienpräsenz auf allen Kanälen, sondern vor allem durch ihre Persönlichkeit.

Sie hinterfragt, sie verweigert sich traditionellen Rollenbildern, sie lässt sich nicht in bestimmte Images zwingen, und sie scheint sich stets treu zu sein. Sie zeigt öffentlich eine Verletzbarkeit, die enormen Mut erfordert, und ist somit eine zeitgenössiche Ikone des ungeschminkten Feminismus.

Psychologische Einblicke

2019 veröffentlichten Charlotte Roche und ihr Mann Martin Keß auf Spotify eine Podcast-Serie namens Paardiologie. In privaten Aufnahmen besprechen die Eheleute alles rund um das Thema Beziehung. Anhand persönlicher Erlebnisse und Erfahrungen werden Themen wie Eifersucht, Treue, Drogen, Kindererziehung, Affären oder Therapien behandelt.

Auch hierbei fällt wieder auf, mit welcher Unerschrockenheit und furchtlosen Offenheit Roche intimen Themen und Fragestellungen begegnet. Man kann als Zuhörer nicht anders, als mit ihr zu fühlen, die Emotionen hinter ihrer Tonlage wahrzunehmen und sich ihr ganz und gar anvertrauen zu wollen, damit sie nicht alleine ist in ihrer ehrlichen Menschlichkeit. Man gewinnt psychologische Einblicke in ihr Leben, in ihre Gedanken, in ihre Welt und ist vollkommen gefangen und verzaubert von dieser Frau. Und auch von der Beziehung der beiden, denn sie diskutieren ihre Ehe mit einer Tiefe, einer bedingungslosen Zuneigung, einer so respektvollen Begegnung mit der anderen Person, dass man als durchschnittliche weibliche Zuhörerin neidisch wird auf ihre offene Kommunikationsfähigkeit.

Ein Plädoyer für Alternative

Durch ihren jahrelangen Erfolg in Radio und Fernsehprogrammen Deutschlands ist offensichtlich, dass Charlotte Roche weder Publicity noch Provokation in irgendeiner finanziellen oder karriererelevanten Art nötig hätte. Dadurch strahlen ihre jüngsten Publikationen von einer seltenen Authentizität. Dies ist das Geheimnis ihres Erfolges und ihrer Beliebtheit – sei es zu Beginn ihrer Medienlaufbahn in der Talkshow Roche & Böhmermann, als Moderatorin bei einem Musiksender, als Kolumnistin oder Sängerin einer Garagenrockband, oder auf dem Höhepunkt ihres beruflichen Erfolges nach der Veröffentlichung von mehreren Bestsellern, sie bleibt authentisch.

Roche ist eine ganz gewöhnliche Frau, die sich selbst außergewöhnlich macht durch ihre Lebensweise und ihre Einstellung zur Öffentlichkeit. Sie ist alternativ in ihrem Normalsein und interessant durch ihre Alltäglichkeit: Millionen von Frauen können sich identifizieren mit ihren Ängsten, ihren Gedanken, ihren Erlebnissen und ihrem unbesiegbaren Willen, sie selbst sein zu wollen. Trotz Schicksalsschlägen, die öffentlich ausgeschlachtet wurden, trotz Versuche der Medien, sie als rachsüchtig, karrieregeil und hysterisch darzustellen, bleibt sie immer ruhig in ihrer Selbstdarstellung. Sie ist eine extreme, furchtlose Grenzgängerin, die sympathisch für die richtige Sache steht.

Roche wird geachtet und bejubelt wegen ihrer Andersartigkeit, dabei bleibt sie immer das Mädchen von nebenan. Sie symbolisiert den neuen deutschen Feminismus und sie ist zu einer Marke geworden. Man kann nur hoffen, dass sie als Künstlerin, Moderatorin und Privatperson nichts von ihrer öffentlichen Präsenz einbüßen wird und dass sie diese durch alte und neue Projekte stetig wiederbeleben wird. Eine Frau wie Charlotte Roche würde in den Medien, in der Öffentlichkeit, in der Welt von Kunst und Kultur unheimlich fehlen.